Der Wermutstrauch – Aufzeichnungen aus dem Kriege (von H.G. Rexroth)
Erzählungen, Romane, sämtliche Genres der Belletristik gehören nicht zu meinem gewöhnlichen Lesestoff. Das hat damit zu tun, daß ich in Anbetracht begrenzter Zeitressourcen meistens zu Büchern greife, die direkt oder indirekt einen gewissen Nutzen für meinen politischen Arbeitsalltag haben.
Umso froher bin ich, daß mir ein glücklicher Zufall ein Exemplar der Neuauflage von »Der Wermutstrauch« von Hermann-Georg Rexroth in die Hand gelegt hat. Eigentlich ist es eine Erstauflage, um die sich der junge Verlag (Edition Finsterberg) verdient gemacht hat, denn die tatsächliche Erstausgabe wird »(…) dank der Wehrmacht, die wohl ein Denkmal aus Papier erhofft, noch im März 1945 gedruckt, aber nicht mehr ausgeliefert. Ein Großteil der hohen Auflage wird eingestampft, der Rest verramscht.« So informiert uns Marc Pommerening im ersten Nachwort, das die literaturbiographische Einordnung leistet, während das zweite, das von Christian von Ostenheim beigesteuert wurde, den militärgeschichtlichen Hintergrund der Rexrothschen »Aufzeichnungen aus dem Kriege« erläutert.
Rexroth erlebte die Veröffentlichung nicht mehr – er fällt als Kriegsberichterstatter im September 1944 in Italien.
Drei Aspekte möchte ich hier besonders hervorheben:
1. »Der Wermutstrauch« verarbeitet Eindrücke vom Vormarsch der Heeresgruppe Süd im Sommer 1942. Einen Schwerpunkt der Betrachtung bildet die Wiedereroberung Rostows durch die Wehrmacht. Die Schlachtfelder des Abschnittes der »alten Ostfront«, die Rexroth beschreibt, liegen damit nur wenig südlich jener der »neuen Ostfront«, an der im letzten Jahr über 200.000 junge Ukrainer und Russen gefallen sind. Das Töten und Sterben ist dasselbe geblieben, wie wohl auch die Dominanz des Wermutstrauches in diesem Gebiet, der dort überall wuchert und seinen bitteren Duft verbreitet. Der Strauch ist das Leitmotiv des Buches. Als apokalyptisches Gewächs, das seinen Geruch mit dem Verwesungsgeruch der Gefallenen amalgamiert, steht es für die Gleichgültigkeit von Flora und Fauna, deren Teil die kämpfenden Heere längst waren und wieder sind.
2. Der »magische Realismus« des Autors ergreift einen sofort. Die Intensität der Sprache ist beachtlich. Er beschreibt den Kriegsalltag detailreich, die herausfordernden klimatischen Bedingungen, die ständige Todesgegenwart, den Überlebenskampf der Zivilbevölkerung, das mechanische Töten der Soldaten, die Abstumpfung, dazwischen immer wieder Augenblicke »normalen Lebens« und das alles mit feiner, nicht überladener Bildhaftigkeit.
Gerade den Kriegstreibern in den Kartellparteien und Redaktionsstuben, diesen Schreibtischtätern, die über Krieg sprechen wie über die Auswahl der Menüfolge beim letzten Restaurantbesuch, möchte man dieses Buch als Pflichtlektüre verordnen!
3. In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, wie das Manuskript damals durch die Zensur rutschen konnte. Der Autor hatte als Kriegsberichterstatter natürlich den Auftrag Propaganda für eine Seite, in diesem Fall die deutsche zu produzieren. Aber das will ihm im Wermutstrauch nicht gelingen bzw. das hatte er wahrscheinlich gar nicht vor. Er wertet wenig bis gar nicht, macht mit seinen vielgestaltigen Skizzen deutlich, daß kaum noch etwas Menschliches aus dem großen Schlachten herausragt: vom verstümmelten Toten bis zum letztentscheidenden General werden alle in einen schicksalhaften Funktionszusammenhang gestellt, der einmal aktiviert, kaum gebremst werden kann. Aus der Kriegspropaganda tritt die Antikriegsliteratur hervor.
Der Literaturwissenschaftler Professor Günter Scholdt, der das Buch in der Sezession (Nr. 111) besprach, führt dazu aus: »Zudem ist Der Wermutstrauch nicht deshalb bedeutend, weil Rexroth bestimmte, um 1920 modische Techniken verwandte, sondern weil hier ein wahres Dichterauge ein monströses Geschehen fixiert. Weil einer schrieb, der keine Weltanschauung bestätigen, sondern unablässig sehen, wissen und tiefer begreifen wollte. Und weil er die Kraft hatte, es in gültige Worte zu fassen.«
Neben dem Inhalt möchte ich abschließend die hochwertige Aufmachung der Neuauflage loben.
Für 24,50 Euro erhält man nicht nur ein gutes, sondern auch ein schönes Buch!