Heute vor genau dreihundert Jahren wurde der spätere Professor für Logik und Metaphysik in Königsberg i. Pr. geboren. Seine Ideen sind Meilensteine der Philosophiegeschichte. Sie wurden sogar als »kopernikanische Wende« des menschlichen Denkens eingeordnet, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Die »Kritik der reinen Vernunft« gilt als Kants Hauptwerk, das man allerdings zu den anspruchsvollsten Lektüren der Weltgeschichte rechnen muß. Kants Zeitgenosse, der führende Kopf der jüdischen Aufklärung, Moses Mendelssohn, bezeichnete es jedenfalls als »Nervensaft verzehrendes Werk«.
Ich selbst näherte mich Immanuel Kant Anfang der 2000er Jahre mit der Lektüre von Steffen Dietzschs Kant-Biographie. Im Kapitel »Kants unmerkliches Lächeln über die Aufklärung« führt der Autor aus: »Kant ist habituell der geistigen Haupttendenz seines Zeitalters verpflichtet: es ist eine Zeit des Prüfens, des Infragestellens und der Kritik, der sich alles zu unterwerfen habe – Majestät, Gesetzgebung, Denken, Religion und Sittlichkeit.« (S. 202) Wie sehr bedürften wir die Wiederbelebung dieses Zeitgeistes im Hier und Heute, in der die Meinungsfreiheit als Königsrecht der Opposition unterdrückt wird und eine neue ideologische Borniertheit dazu geführt hat, daß westliche Staatenlenker, etablierte Politiker aller Colour, Journalisten und leider sogar Wissenschaftler kaum noch in der Lage sind, das von ihnen angefertigte Schwarz-weiß-Bild von Geschichte und Gegenwart kritisch zu hinterfragen.
In diesem Zusammenhang zitiert Dietzsch auch eine der bekanntesten Passagen aus Kants 1784 veröffentlichten Essay »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«:
»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner auch ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung!« (Hervorhebungen durch I.K im Original) Man wünschte sich, daß diese zeitlose Einsicht jedem heute lebenden Staatsbürger in Fleisch und Blut überginge!
Das Königsberg Kants ist durch einen britischen Bombenangriff im Herbst 1944 weitestgehend zerstört worden, die Belagerung der zur Festung erklärten Stadt durch die Rote Armee erledigte den Rest. Von den ursprünglich knapp 400.000 deutschen Einwohnern blieben 100.000 zunächst in Königsberg. Drei Viertel von ihnen starben bis 1947 an Krankheiten und Hunger, darunter meine Urgroßeltern väterlicherseits.
Nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts freut es mich deswegen besonders, daß das Andenken an Immanuel Kant im heutigen Kaliningrad in Ehren gehalten und sogar gefördert wird. An seinem Grab finden sich fast täglich frische Blumen. 2021 unterzeichnete Wladimir Putin sogar einen Erlaß zur Feier des 300. Geburtstags Kants, mit dem ein Organisationskomitee eingesetzt und zahlreiche Restaurationsvorhaben in die Wege geleitet wurden.
Mit Blick auf die heutige Lage Europas wäre Kant sehr besorgt. Der Denker des »ewigen Friedens« würde sich wünschen, daß seine Heimatstadt zum Begegnungs- und Versöhnungsort zwischen West und Ost, vor allem zwischen Deutschen und Russen würde. Kants Denken ist geistige Brückenbaukunst vom Feinsten. Wir brauchen sie heute vielleicht dringender denn je!