Erosion der Demokratie

Demokratiedämmerung

Gestern abend hielt ich, aus dem Landtag heimkehrend, noch an einer Tankstelle. Ich stand vor dem Kühlregal und suchte nach einem Feierabendbier Thüringer Provenienz, als eine Mitarbeiterin an mich herantrat. In einer Mischung aus Wut, Trauer und Verzweiflung brach es aus ihr heraus: »Das können die nicht machen, das können die einfach nicht machen!« Wie sich schnell herausstellte, bedrückte sie die Aussicht, daß sich die Thüringer CDU zu einer Minderheitskoalition mit zwei linken Kräften – unter Duldung einer weiteren linken Kraft – zusammenschließen könnte. Im Brustton der Überzeugung wiederholte sie immer wieder, daß das nicht der Wille des Wählers, nicht der Wille des Volkes sei, was hier geschähe. Die Dame schloß unsere kurze Begegnung mit den resignierten Worten: »Das ist schlimmer als in der DDR. Da wußte man wenigstens, daß es egal war, wie man wählte, weil das Ergebnis schon feststand. Bisher hatte ich noch die Hoffnung, daß Wahlen etwas verändern können. Die habe ich jetzt verloren.«

»Das können die nicht machen, das können die einfach nicht machen«, dieser Satz schoß mir immer wieder auf der Rückfahrt von Erfurt ins Eichsfeld durch den Kopf. Doch, dachte ich, sie können. Sie werden es als »staatspolitische Verantwortung« verkaufen, von »arbeitsfähiger Regierung« faseln und sich dreist über den Wählerwillen hinwegsetzen. »Brombeerkoalition« soll das krude Gebilde heißen und »stabile Verhältnisse für Thüringen« bringen. Man merkt: Nicht nur die Farbdefinitionen der Leitmedien werden immer alberner, auch die Wählerveräppelung seitens der Altparteien steigt von Wahl zu Wahl. Das einzige stabile an einer solch wackligen Regierungskonstruktion wird die Unfähigkeit sein, jenseits von kosmetischen Korrekturen einen wirklichen Politikwechsel herbeizuführen, also das, was die Mehrheit der Thüringer Bürger wünscht.

Das Machtkartell befindet sich seit den Wahltriumphen der AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Ausnahmezustand. Und Ausnahmezustände erlauben Ausnahmemaßnahmen. So jedenfalls die offizielle Rechtfertigung für bizarre AfD-Verhinderungs-Koalitionen und parlamentarische Regelbrüche. Das läßt zwar immer mehr die demokratische Ordnung zerbröseln, aber wer den »Faschismus« in Land und Ländle verhindern will, darf nicht zimperlich mit Gesetz und Ordnung sein. Morgen bekommen die Bürger ein konkretes Beispiel im Erfurter Landtag geboten.

Die Regel, die seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland in den Geschäftsordnungen der deutschen Parlamente festgelegt ist, lautet, daß die aus den Wahlen hervorgegangene stärkste politische Kraft indirekten Zugriff auf das Parlamentspräsidentenamt hat. In der Geschäftsordnung des Thüringer Landtages (GOLT) lautet der einschlägige §2 (2): »Die stärkste Fraktion schlägt ein Mitglied des Landtags für die Wahl zur Präsidentin beziehungsweise zum Präsidenten vor.« Man möchte die Kartellparteien und insbesondere die CDU, die mit 23,6 % weit abgeschlagen hinter der AfD mit 32,8 % landete und trotzdem ihren Abgeordneten Thaddäus König als Kandidaten für das Amt benannt hat, fragen: Was ist an dieser Festlegung nicht zu verstehen? Sicher: Ein Vorschlag ist noch keine Garantie zur Wahl, aber der Gedanke hinter dem Paragraphen weist der stärksten Fraktion den Anspruch auf diese Position eindeutig zu, auch um dem Amtsinhaber die Legitimität durch die größtmögliche Zustimmung des Souveräns zukommen zu lassen.

Wenn Morgen im Thüringer Landtag nicht der Kandidat der stärksten Fraktion gewählt würde, wäre das ein elementarer Regel- und Tabubruch in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte.Und genau diesen Bruch bereiten CDU, BSW, SPD und Linke vor. Dazu wurde eigens eine Neufassung der Einladung zur konstituierenden Sitzung ausgesendet. In dieser erscheint auf einmal als Tagesordnungspunkt 4, also vor der Wahl des Parlamentspräsidenten (!), ein Antrag zur Änderung des oben zitierten Paragraphen 2 der Geschäftsordnung – eingereicht von den Fraktionen CDU und BSW –, obgleich sich die Tagesordnung der konstituierenden Sitzung in Thüringen ausschließlich aus §1 bis §3 GOLT ergibt.

Man muß sich das einmal vor Augen halten: Eine Landtagspräsidentin, deren letzte Amtshandlung die Einladung zur konstituierenden Sitzung zu sein hat, tätigt eine »allerletzte« Amtshandlung und gibt geschäftsordnungswidrig eine Neufassung der Einladung aus, in der sie einen Geschäftsordnungsantrag vor der Konstituierung des Landtags platziert, die mit der Wahl des neuen Landtagspräsidenten erfolgt. Daß die irregulär aktive Landtagspräsidentin nach der Landtagswahl am 1.9. noch nicht einmal mehr Landtagsabgeordnete ist, ist dabei das I-Tüpfelchen der hier beschriebenen Politposse.

Es steht zu vermuten, daß ein womöglich angerufenes Verfassungsgericht dem unheilvollen Treiben kaum Einhalt gebieten wird. In der Corona-Zeit folgten die Urteile der Verfassungsgerichtsbarkeit der Macht und nicht dem Recht. Letztlich verdanken die Verfassungsrichter ihre Positionen den Parteibüchern, die sie selbst besitzen – ein Schlag ins Gesicht der vielbeschworenen Gewaltenteilung.

Der bedeutende Staatsrechtler Carl Schmitt sah für Ausnahmezustände die Möglichkeit von Ausnahmemaßnahmen vor. Er band allerdings diese »Souveränität« an das Staats- und Gemeinwohlinteresse, nicht an Partikular- und Einzelinteressen. Was gegen die Thüringer AfD jetzt in Stellung gebracht wird, ist das Partikularinteresse einer Beutegemeinschaft samt dem Egointeresse zweier eitler Personen: einem Wahlverlierer, der aus Machtambitionen doch noch Ministerpräsident werden möchte, und einer Talkshow-Diva, die aus dem fernen Saarland die Thüringischen Belange zu gestalten gedenkt.

Mit dem Wählerwillen haben all diese Wende-Blockierer wenig am Hut: Würde die »Brombeer-Koalition« zur direktdemokratischen Volksabstimmung stehen, würde sie nicht über eine einstellige Prozentzahl hinauskommen. Das Machtkartell, das stets die Verteidigung der Demokratie wie eine Monstranz vor sich herträgt, ist hauptverantwortlich für die massive Erosion der Demokratie in unserem Land. Sie haben mit ihrem Verhalten und ihren Maßnahmen gegenüber der demokratischen Opposition unseren Staat und seine freiheitliche demokratische Ordnung auf eine abschüssige Bahn gestellt. Und nirgends in Deutschland ist die Schußfahrt so beschleunigt wie in Thüringen.

Björn Höcke Portrait

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