Vor 80 Jahren: Die größte Schiffskatastrophe der Geschichte
Wenn ich in der kalten Jahreszeit während eines Aufenthaltes an der Ostsee dick eingepackt bei Wind und Wetter am Ufer stehe und auf das aufgewühlte Meer schaue, muß ich stets an das tragische Schicksal der »Wilhelm Gustloff« denken. Dann kommt mir meine Großmutter in den Sinn, die immer wieder davon berichtete, was damals geschah, als sie mit ihrer Familie im Winter 1945 aus ihrer Heimat Ostpreußen vor den herannahenden Sowjettruppen auf der Flucht war. Sie erzählte mir von Tieffliegerangriffen auf ihren Flüchtlingstreck, von einer vom Wahnsinn gezeichneten Mutter, die tagelang ihren erfrorenen Säugling mit sich herumtrug und von der Verzweiflung der Familie, ein paar Stunden zu spät im Hafen von Gdingen, das damals Gotenhafen hieß, angekommen zu sein, wo das zum Flüchtlingsschiff umfunktionierte ehemalige Kreuzfahrtschiff »Wilhelm Gustloff« kurz vorher seine Fahrt nach Westen mit Zielort Kiel angetreten hatte. Vor meinem geistigen Auge öffnet sich der Rumpf des Dampfer mit seinen vermutlich mehr als 10.000 Menschen an Bord, darunter fast die Hälfte Kinder.
Über mehrere Stockwerke verteilt kauern sie dicht an dicht gedrängt in den heißen, stickigen Kabinen und Gängen, das Stöhnen der mittransportierten schwerverwundeten Soldaten mischt sich mit den Schreien von Säuglingen. Trotz der widrigen Umstände sind viele erleichtert, vor der Roten Armee lebend entkommen zu sein. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte: Um 21:16 Uhr schlägt der erste von drei Torpedos, abgefeuert von einem sowjetischen U-Boot, in das Schiff ein. Die Passagiere an der Einschußstelle finden einen schnellen, gnädigen Tod. Bei den anderen breitet sich Panik aus. Nur die Kräftigsten und Willensstärksten gelangen an Deck, in Todesangst schlagen die Starken die Schwachen nieder. Marineoffiziere versuchen mit entsicherten Waffen und Warnschüssen das Chaos an Bord in den Griff zu bekommen. 62 Minuten nach dem ersten Treffer sinkt die »Wilhelm Gustloff«, hell erleuchtet wie in fröhlichen Friedenszeiten, und der „eiserne Sarg“, in dem eben noch menschliches Leben und Hoffnung waren, rauscht in die eisigen Tiefen des Meeres. Über 1.000 Schiffbrüchige können von heraneilenden Handels- und Kriegsschiffen gerettet werden, ca. 9.000 Deutsche jedoch, davon der größte Teil Kinder, Frauen und Greise, finden den Tod. Sie liegen seit nunmehr 80 Jahren auf dem Grund der Ostsee, zwölf Seemeilen vor der pommerschen Küste.
Es war nicht das einzige Unglück auf See, das sich damals ereignete. Neben der »Gustloff« wurden noch zwei weitere Schiffe mit verwundeten Soldaten und Flüchtlingen von sowjetischen U-Booten versenkt: die „Steuben“ am 9./10. Februar und die »Goya« am 16./17. April, zusammen über 10.000 Tote. Insgesamt kamen bei der großen humanitären Evakuierungs-Aktion am Ende des Krieges, die rund 2,5 Millionen Deutsche mit über 1.000 Schiffen über die Ostsee Richtung Westen brachte, ca. 25.000 Menschen ums Leben. Die von den heutigen Machthabern verdrängte Erinnerung an solche deutschen Katastrophen haben dazu beigetragen, daß auch in der dritten Nachkriegsgeneration ein Kollektivtrauma – zumeist unbewußt und auch die gleichgültigen sowie anti-nationalen Landsleute einschließend – weiterschwelt, das nur überwunden werden kann, wenn wir uns der ganzen Geschichte in ihren schicksalhaften Verwicklungen und Tragödien stellen – wozu nicht nur die Mißgriffe, Vergehen und Verbrechen der Deutschen, sondern auch die Mißgriffe, Vergehen und Verbrechen an Deutschen gehören.
In den USA hat der Präsident Trump eine neue Ära der Meinungsfreiheit für den Westen ausgerufen. Hoffen wir, daß dieser Impuls auch nach Europa und Deutschland überspringt. Dann können wir Deutschen unsere zivilen und militärischen Toten des Zweiten Weltkriegs wieder würdevoll betrauern, ohne in den infamen Verdacht zu geraten, das NS-Regime zu verharmlosen.
Und wir können dann auch frei über die Dinge sprechen, die ein ausländischer Politiker, der US-Amerikaner Pat Buchanan, zu dem Komplex des Zweiten Weltkriegs in den Raum gestellt hat: »Die Welt weiß alles, was die Deutschen getan haben; die Welt weiß nichts von dem, was den Deutschen angetan wurde.« Heute, am 30. Januar 2025, trauere ich als vierfacher Vater und Großvater vor allem um die toten Kinder der »Wilhelm Gustloff«. Sie sind vor 80 Jahren die unschuldigsten, sinnlosesten Opfer eines furchtbaren, enthemmten Krieges geworden. Ihnen zu gedenken, ist nicht nur ein Akt menschlicher Verbundenheit, sondern sollte auch eine Selbstverständlichkeit für eine politisch-gesellschaftliche Elite in Deutschland sein, die diesen Namen verdient.